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Christine Kröger „Abgeschaltet

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Abgeschaltet:
Aufstieg und Fall eines V-Manns

Der Spitzel, der zu viel wusste: Was Bernd Kirchner alias G 06 im Hannoveraner Rotlichtmilieu erfuhr, brachte Kriminelle in Bedrängnis – aber auch Polizisten und Staatsanwälte


Von Christine Kröger, Weser-Kurier, 14.05.2010


Den Zuhälter würde man ihm heute noch abkaufen. Er ist schon ein merkwürdiger Typ, dieser Bernd Kirchner. Mode von Edeldesignern trägt er gerne, die Sorte, auf denen das teure Label unübersehbar prangt. Die Ränder unter seinen Augen sind dunkel, seine Stimme klingt rau und belegt. Er sieht aus wie einer, der die Nacht schon oft zum Tag gemacht hat.

Aus der Brusttasche seines Versace-Hemdes kramt er ein Päckchen Zigaretten. Roth-Händle ohne Filter. Er raucht viele davon, während er erzählt. Und er hat viel zu erzählen. Ungeheuerliche Geschichten von organisierten Kriminellen, ebenso ungeheuerliche Geschichten von einflussreichen Unternehmern, Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Polizeibeamten.

Seine einst teuren Kleidungsstücke sind aus der Mode gekommen, heute sehen sie abgewetzt aus. 59 Jahre ist Kirchner jetzt alt, seit sechs Jahren hält ihn Hartz IV über Wasser, manchmal rückt der Geldautomat schon lange vor Monatsende nichts mehr raus. Das war nicht immer so. Vor zehn Jahren habe er mit seiner Familie eine 480-Quadratmeter-Villa in Springe nahe Hannover bewohnt, berichtet Kirchner, und in der Garage habe mal ein 500er Mercedes, mal ein Audi A8 gestanden. Als Zuhälter galt Kirchner damals, der an mehreren Bordellen in Nordrhein-Westfalen beteiligt ist. Als ein Mann, der weit über Hannovers Grenzen hinaus beste Beziehungen ins Rotlichtmilieu unterhält und immer für eine krumme Tour gut ist. Kirchner hatte damals einen kurzen Draht zu Kiezgrößen wie Frank Hanebuth oder Marcel R.*, beide Männer betrieben mehrere Großbordelle in Hannover. In Wahrheit aber waren Kirchners Bordellbeteiligungen eine Legende, tatsächlich arbeitete er für die Polizei. G06 hieß er in den Behörden.

Von 1997 bis 1999 sei er für die Abteilung Organisierte Kriminalität (OK) unterwegs gewesen, berichtet er. Die OK-Experten waren damals noch der Bezirksregierung Hannover unterstellt und hatten ihre Büros in Garbsen. Im Jahr 2000 heuerte er bei der Polizeidirektion Hannover an, die setzte G06 auf Hanebuth und dessen Rockerbande „Hell’s Angels“ an. Kirchner war die erste „Vertrauensperson“ (VP) nach dem niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz. Das Gesetz erlaubt den Strafverfolgungsbehörden, unter mutmaßlichen organisierten Kriminellen auch ohne konkreten Verdacht zu ermitteln, um deren Organisationsstrukturen zu erhellen. G06 lieferte „uneigennützig äußerst glaubwürdige und präzise“ Informationen, urteilte ein Polizeibeamter.

Erkenntnisse von unschätzbarem Wert“ habe die Polizei dem V-Mann zu verdanken, fasste ein anderer Beamter zusammen, als Kirchners Einsatz im Jahr 2003 nach insgesamt mehr als sechs Jahren endete. Die Polizisten waren Kirchners „VP-Führer“. Nur sie allein hielten Kontakt zu dem V-Mann, nur sie allein kannten seine genauen Lebensumstände.

Das Land Niedersachsen hat seinem Spitzenspitzel sogar Reisen nach Spanien be-zahlt. Auf Staatskosten flog G06 zweimal nach Gran Canaria. Dort ließen es sich „Hell’s Angels“ und andere Rotlichtgrößen in einem Luxushotel gutgehen – zusammen mit renommierten Geschäftsleuten und Rechtsanwälten, berichtet Kirchner. Selbst-redend seien dabei auch „geschäftliche“ Angelegenheiten besprochen worden.

Bingo, Schiff versenkt“, habe einer seiner VP-Führer immer gesagt, wenn Kirchners Angaben zu einem Ermittlungserfolg führten. Und der Beamte habe das oft sagen können, beteuert der Ex-Spitzel. Von der Staatsanwaltschaft Hannover bekam G06 zwölf Vertraulichkeitszusagen. Diese Zusagen garantieren V-Leuten ihre Anonymität, wenn sie gegen Schwerverbrecher und organisierte Kriminelle aussagen. Zwölf seien viel mehr als die meisten VP bekommen, bestätigen Experten. Mit 30 Monaten Arbeit für die Polizeidirektion Hannover sei G06 zudem ungewöhnlich lange im Einsatz gewesen. Das Land ließ sich den V-Mann in dieser Zeit an Spesen mehr als 35000 Euro kosten. Der Aufwand hat sich gelohnt: Allein in einem der vielen erfolgreichen Verfahren, die auf Kirchners Tipps zurückgingen, wurden mehr als acht Kilogramm Kokain, zwei Kilogramm Marihuana, sieben Schusswaffen und 361500 Euro Bargeld sichergestellt.

Bis heute sind Kirchners Kontakte bei den Behörden gefragt. Auf einem alten Handy, das noch irgendwo herumlag, habe ihn noch kürzlich einer aus dem Milieu angerufen, berichtet Kirchner der Polizei. Die nimmt seinen Hinweis offenbar ernst und will Genaueres wissen. Sie trifft sich mit ihm. An einem Morgen im Mai 2009 nehmen zwei Beamte Kirchner in einer Autobahnraststätte in Empfang. Den Tisch wählen sie sorgfältig aus, und wenn eine Kellnerin den drei Männern zu nahe kommt, sagt ein Blick Kirchner, dass er jetzt einen Moment schweigen soll. Der Beamte der Polizeidirektion Hannover notiert gewissenhaft, was der ehemalige V-Mann über den Anrufer zu sagen hat. Sein Kollege vom Landeskriminalamt lehnt sich zurück und beobachtet Kirchner aufmerksam.

Kirchner ist sich heute sicher, dass nicht jeder Ermittler in Polizei oder Staatsanwaltschaft für jeden Hinweis dankbar ist – und auch nicht jeder Politiker. Einige Informationen aus dem Milieu, die er einst lieferte, „waren offensichtlich unerwünscht“. Zum Beispiel, wenn sich Zuhälter mit ihren Verbindungen zum Volkswagen-Konzern brüsteten. Bereits im Jahr 2000 berichtete G06 der Polizei, dass ein VW-Betriebsratsmitglied sich vermutlich von Bordellbetreiber R. schmieren lasse. Marcel R. mache dem Arbeitnehmervertreter wertvolle Geschenke und behaupte, im Gegenzug begehrte VW-Jobs vermitteln zu können – gegen Bares, versteht sich. Anfang 2001 meldete der Spitzel dann, Bordellbetreiber R. organisiere teure Sex-Partys für VW-Manager.

Bekanntlich flog die „VW-Affäre“ um Sex-Partys, Tarnfirmen und Schmiergeld erst Mitte 2005 auf, mehr als vier Jahre nach Kirchners Hinweisen. Vielleicht, weil die Polizei Hannover sich 2001 damit begnügt hatte, die V-Mann-Informationen als „Gerüchte“ weiterzugeben – direkt an VW. Die Behörde überließ es dann offenbar dem Unternehmen, die Vorwürfe „intern“ zu überprüfen (siehe Text unten).

VW sei eben ein Konzern, dessen Einfluss man kaum überschätzen könne, sagt Kirchner. Aber VW ist nicht nur riesengroß und mächtig, sondern gilt auch als renommiert und seriös. „Ich bin kein Spinner, obwohl mir das mancher nachweisen möchte“, beteuert der ehemalige V-Mann. Und auch das mit dem Zuhälter-Outfit will er nicht auf sich sitzen lassen. Der einstige Spitzel grinst. „Von wegen Zuhälter, die Rolex fehlt doch.“ Stimmt, vor wenigen Tagen glitzerte noch diese auffällige goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die habe er versetzen müssen, klagt Kirchner. Hartz IV reicht ihm eben hinten und vorne nicht.

Sein tiefer Fall begann am 10. Januar 2003. Damals nahmen Polizei und Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Kirchner auf. Am Ende wogen die Vorwürfe schwer: Vergewaltigung, Zuhälterei, Menschenhandel. Kritiker der problematischen VP-Praxis mögen sich bestätigt sehen, ist Kirchner doch nur einer von vielen Spitzeln, die in Straftaten verwickelt gewesen sein sollen. Nicht nur deshalb ist die V-Mann-Praxis umstritten: Wer das Vertrauen organisierter Krimineller genießt, gerät rasch selbst ins Zwielicht. Befürworter halten dagegen, ohne solche Informanten könne man im ohnehin wenig erfolgreichen Kampf gegen organisierte Kriminalität kapitulieren. In den abgeschotteten Netzwerken schweigen nicht nur Täter, sondern in aller Regel auch Opfer und Zeugen.

Im Fall G06 spricht vieles gegen einen Sündenfall des V-Mannes – aber vieles spricht für einen Sündenfall von Polizei und Justiz. Kirchners Informationen über den VW-Konzern waren nicht die einzigen, die nicht nur Milieuangehörige, sondern auch angesehene Bürgern betrafen: Er meldete im November 2000, dass mehrere Hannoveraner Staatsanwälte enge Kontakte ins Milieu pflegten. In dieser Affäre spielte genau jener Oberstaatsanwalt eine undurchsichtige Rolle, der rund zwei Jahre später hartnäckig gegen Kirchner zu ermitteln begann (siehe Text rechts).

Kirchners ehemalige VP-Führer beteuerten, ihr Schützling habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Alles, was ihm die Staatsanwaltschaft jetzt ankreide, sei mit der Polizei abgesprochen und nicht strafbar gewesen. Wenn jemand deshalb dennoch auf die Anklagebank gehöre, dann nicht der Spitzel, sondern er und seine Kollegen, bezichtigte sich gar ein Beamter selbst. Doch Hannovers damaligen Polizeipräsidenten Hans-Dieter Klosa focht die vehemente Fürsprache seiner Experten nicht an: Er widerrief die Genehmigung für Kirchners VP-Einsatz. Am 13. März 2003 wurde G06 abgeschaltet.

Wegen der Ermittlungen drohte der V-Mann auch im Milieu aufzufliegen. Er kam ins Zeugenschutzprogramm – und seines VP-Lohnes entledigt in finanzielle Nöte, als er mehrmals überstürzt umziehen musste. Polizeibeamte, die mit G06 zusammengearbeitet hatten, konnten nicht fassen, was ihrem Ex-Informanten widerfuhr. Zwei von ihnen halfen ihm im November 2003 sogar privat mit Geld aus. Erstaunlicherweise hielt selbst die Staatsanwaltschaft Hannover Kirchner offenbar nach wie vor für glaubwürdig: Als ihr Oberstaatsanwalt längst gegen den mittlerweile abgeschalteten V-Mann ermittelte, gab die Anklagebehörde ihm immer weiter Vertraulichkeitszusagen – gleich in fünf verschiedenen Strafverfahren.

Mehr als eineinhalb Jahre ließ die Staatsanwaltschaft verstreichen, bevor sie im August 2004 Anklage gegen Kirchner erhob. Mitte 2005 sprach das Landgericht Hannover Kirchner schließlich vom Vorwurf der Vergewaltigung frei, das Verfahren wegen Menschenhandels und Zuhälterei stellte es wegen geringfügiger Schuld gegen eine Auflage ein.

Seit er abgeschaltet wurde, kämpft der einstige Spitzel nicht mehr gegen organisierte Kriminelle, er kämpft gegen Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Politiker: Sie sollen ihre Zusagen nicht eingehalten haben. Ungezählte Beschwerden schreibt Kirchner an die Strafverfolgungsbehörden, reicht bei Gerichten Klagen ein, spricht örtliche Politiker an, wendet sich an den Petitionsausschuss des Landtages und an Minister in Hannover. Vergeblich. „Wenn sich ausnahmsweise mal ein Politiker dahinterklemmt“, sagt Kirchner, „pfeifen ihn seine Parteioberen sofort zurück.“

Auch Ermittler beschäftigen sich immer wieder mit den zahlreichen Vorwürfen ihres ehemaligen Informanten. Allerdings sitzen diese Ermittler meistens in genau den Ämtern, die er beschuldigt: in der Polizeidirektion und in der Staatsanwaltschaft Hannover. Tatsächlich hat die Anklagebehörde bislang sämtliche von dem ehemaligen V-Mann in eigener Sache angeschobenen Verfahren eingestellt: Frist nicht gewahrt, Vorwurf verjährt, keine Hinweise gefunden, Polizeibericht verschwunden…

Mit diesen und ähnlichen Begründungen arbeitete die Staatsanwaltschaft Hannover zuletzt am 18. März 2008 eine Reihe von Kirchners Anschuldigungen ab. Am Ende stellte sie einmal mehr fest, es gebe „keine zureichenden Anhaltspunkte für Straftaten“.

Die Staatsanwaltschaft Hannover nahm zu all dem bis Redaktionsschluss keine Stellung. Und Hannovers Polizeipräsident Uwe Binias blieb im Allgemeinen: Die Vorgänge, um die es gehe, lägen lange zurück, damals handelnde Personen hätten längst andere Positionen, die fraglichen Sachverhalte seien „zum Teil schon Gegenstand von Medienberichterstattung und einer Landtagsanfrage“ gewesen, „gar nicht zu reden von den ungezählten Eingaben des Herrn K., die alle bereits geprüft und beschieden worden“ seien. Eine Klärung im Detail wäre dem Polizeipräsidenten auch zu viel Aufwand, bedürfe es dazu doch eines „umfangreichen Aktenstudiums“. Offensichtlich uneinsichtig beschäftige Kirchner die Behörden dennoch „mit großer Ausdauer“ weiter.

Ebenfalls mit großer Ausdauer verfolgt wird allerdings ein Verfahren, das nicht ge-gen Beamte, sondern gegen den ehemaligen Spitzel angestrengt wurde. Wegen Konkursverschleppung hatte das Amtsgericht Springe Kirchner bereits am 4. Oktober 2000 zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen à 50 Mark verurteilt. Mehr als neun Jahre später, am 13. Januar 2010, schickte die Staatsanwaltschaft Hannover ihm deshalb eine „Ladung“ in die „nächstgelegene Justizvollzugsanstalt“. 51 Tage sollte er in Haft, weil er 1303,80 Euro nicht bezahlt hatte. Dieser Betrag sei von jenen 80 Tagessätzen immer noch offen. Im letzten Moment konnte Kirchner sich das Geld bei Bekannten leihen.

Dabei habe er die Warenhandelsgesellschaft in Springe 1999 korrekt abwickeln wollen, beteuert der ehemalige V-Mann. Doch die Zollfahndung Düsseldorf, für die er damals Drogenhändler ausspionierte, sah durch die Pleite ihre Ermittlungen gefährdet. Sie wies ihn an, mit der Konkursanmeldung zu warten. Die Beamten konnten am Ende 450 Kilogramm Haschisch beschlagnahmen und mehrere Männer festnehmen. Gegen ihren Informanten aber lief nun das Verfahren wegen Konkursverschleppung.

Die Polizei wollte die Angelegenheit aus der Welt schaffen“, sagt Kirchner. Tatsächlich gab ein Polizist am 31. Oktober 2000 zu Protokoll, „vertraulich“ mit dem Amtsgericht Springe und der Staatsanwaltschaft Hannover gesprochen zu haben: Die Anklagebehörde werde den Richter bitten, das Urteil gegen G06 „wegen geringer Schuld“ aufzuheben, der Richter diesen Wunsch dann erfüllen, hielt der Beamte als Absprache fest.

Nicht nur in Sachen Konkursverschleppung haben Polizeidirektion und Staatsanwaltschaft Hannover nicht Wort gehalten, klagt Kirchner. Doch bleibt er auf die Polizeidirektion angewiesen: In deren Zeugenschutzprogramm ist er bis heute, wegen seiner neuen Identität habe er „da ja leider keine Wahl“. Dass ihm dieser Schutz nicht reiche, lautet einer seiner Vorwürfe. „Was schief gehen kann, geht schief“, weil die Polizisten vollkommen unprofessionell agierten. Nur der von ihnen verursachter Pannen wegen habe er seit dem Jahr 2003 mehrfach umziehen müssen.

An seinem derzeitigen Wohnsitz lebt er immerhin seit Mai 2007, doch Fuß gefasst hat er dort nicht. Mit einem neuen Namen sei es eben nicht getan, meint Kirchner. „Was soll ich denn sagen, wenn mich jemand fragt, was ich bis 2003 gemacht habe?“ Die Zeugenschützer hätten ihm eine Legende zugesagt, behauptet er. „Zuzug aus Belgien 2003“ sollte die lauten, weil seine Frau bereits in Belgien gearbeitet habe, das Paar daher diesen fiktiven Lebenslauf realistisch vortäuschen könne. Doch statt der dafür nötigen Unterlagen habe man ihm lediglich einen neuen Namen gegeben.

Noch im vergangenen Jahr versuchte der 59-Jährige erneut, die strittige Legende einzuklagen, doch das Landgericht Hannover winkte ab: Die Polizeidirektion hatte argumentiert, für den neuen fiktiven Lebenslauf reiche es aus, lediglich Zeugnisse und andere Dokumente auf seinen neuen Namen umschreiben zu lassen.

Zeugnisse? Welche hat Kirchner? Was hat er getrieben, bevor er Spitzel wurde? Wie kam er zu den Milieukontakten, die ihn für die Polizei als V-Mann erst interessant machten? Der Ex-Spitzel erklärt das so: Als junger Mann und gelernter Koch sei er ein Jahr zur See gefahren. Später habe er zum Groß- und Außenhandelskaufmann umgeschult und es mit 28 Jahren bereits zum Geschäftsführer einer großen Baufirma in Kiel geschafft. Ein Hörsturz aber brachte ihn 1986 lange ins Krankenhaus. Währenddessen hätten seine Vertreter Verträge abgeschlossen, „die mir schließlich das Genick brachen“. Am Ende verurteilte ihn das Amtsgericht Kiel wegen Betruges zu einer Geldstrafe.

Doch schon nach wenigen „unschönen Jahre“ sei es ihm „wieder verdammt gut gegangen“, sagt Kirchner. Dieser merkwürdige Typ, der sonst sehr gern redet, will jetzt nicht mehr recht raus mit der Sprache. Als eine Art Unternehmensberater habe er sich „durchgeschlagen“, lässt er sich schließlich entlocken, und dabei alle paar Jahre seine dicke Limousine gegen eine noch dickere austauschen können.

1996 sei er dem Jobangebot einer Anlageberatungsfirma nach Hannover gefolgt. Dort sei er dann in die Warenhandelsgesellschaft eines Verwandten eingestiegen, wegen deren verschleppten Konkurs’ er noch kürzlich ins Gefängnis sollte. Die Ehefrau der Kiezgröße Marcel R., die damals Sonderpostenmärkte betrieb, sei seine Kundin geworden. Rasch habe er sich auch mit ihrem Mann angefreundet…

Bei den ersten krummen Dingern, die er der Polizei steckte, sei es ausschließlich um Drogen gegangen, erzählt Kirchner, denn Drogen seien ein schmutziges Geschäft. Er beteuert, „aus Überzeugung“ gehandelt zu haben. Das klingt nicht nur gut, es stimmt wohl auch. In Polizeiberichten jedenfalls ist ähnliches nachzulesen: Die „Motivation der VP G06“ resultiere „aus der Tatsache, daß sie bei ihren eigenen geschäftlichen Tätigkeiten erfahren konnte, wie von bestimmten Personenkreisen unter Einbeziehung von Rechtsanwälten, Notaren und Steuerberatern gesetzlich verankerte Vorgaben erfolgreich und skrupellos umgangen werden“. Zudem habe die VP gelernt, „daß ,honorige Geschäftsleute’ ganz offensichtlich nicht davor zurückschrecken, aus Gründen der Gewinnmaximierung Geld in den organisierten Drogenhandel zu investieren“. Aus gelegentlichen Tipps Kirchners wurden regelmäßige, und schließlich heuerten die Ermittler ihn als V-Mann an.

Als gänzlich selbstlos will sich der Lebemann von einst aber doch nicht verkaufen. Neben einer Legende fordert Kirchner Geld. Geld, das ihm seiner Meinung nach zusteht. 15000 Euro bekam er von der Polizei, als er abgeschaltet wurde. Viel zu wenig, meint er – und steht auch mit dieser Meinung nicht alleine da. Seine ehemaligen VP-Führer schrieben 2003 gleich mehrere „Entlohnungsanträge“ für ihren scheidenden Informanten. Sie errechneten Beträge bis zu 75800 Euro.

Für Hannovers Polizeipräsident Binias sieht Kirchners „Sicht der Dinge kurz zusammengefasst wie folgt aus: Herr K. meint, dass er als VP extrem wertvolle Informationen geliefert hat, wofür er nicht hinreichend entlohnt wurde“. Und der Polizeichef hält dagegen: „Viele Informationen der ehemaligen VP G06 hatten für Ermittlungsvorgänge längst nicht den Nutzen, den der Betreffende anscheinend bis heute selbst annimmt.“ Über die Freigabe des Geldes entscheide „letztendlich der Polizeipräsident“ – und sein Amtsvorgänger Klosa „hatte sehr gute Gründe zu entscheiden, wie er es getan hat“.

Diese „sehr guten Gründe“ nennt Binias allerdings nicht. Er verrät auch nicht, wie sein Vorgänger Klosa zu diesen Erkenntnissen über die „VP G06“ kam: Eigentlich halten doch nur VP-Führer Kontakt zu Spitzeln wie Kirchner, und diesen Beamten waren derlei „sehr gute Gründe“ offenbar nicht bekannt. Mit der Vertraulichkeit scheint Binias es auch sehr genau zu nehmen, jedenfalls „kann und will“ er zu einzelnen Fragen „zum sensiblen Thema VP-Führung“ generell keine Auskunft geben. Daher bleibt offen, wie diese „guten Gründe“ von Binias’ Amtsvorgänger Klosa dazu passen, dass derselbe Polizeipräsident einst Kirchners Einsatz das eine um das andere Mal verlängerte und ihm dazu noch im Schnitt mehr als 1000 Euro pro Monat allein an Spesen bewilligte.

Der Ex-Spitzel zündet sich noch eine Zigarette mehr an, doch auch die verqualmt im Aschenbecher. Kirchner hat keine Zeit. Er muss reden und schimpfen. Schimpfen auf die betrügerische Polizei, die marode Justiz, die scheinheilige Politik. Dieser Staat habe ihm jeden Glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit genommen. Diesen Satz sagt Kirchner genauso häufig, wie er Hannovers Polizei und Justiz mit der Mafia vergleicht oder Deutschland eine Bananenrepublik schilt.

Vor dem Hintergrund eines in Gesprächen immer wieder festzustellenden ausgeprägten Gerechtigkeitssinnes bot die V-Person den Ermittlungsbehörden die Zusammenarbeit an“, schrieben Polizisten, als Kirchner abgeschaltet wurde. Seine privaten Interessen habe G06 während seines Einsatzes vollkommen hintangestellt. Nie zuvor sei „es gelungen, eine derart fähige, professionell agierende V-Person mit einem schier unerschöpflichen Beziehungsgeflecht zu bedeutsamen und honorigen Personen aus den Bereichen Milieu und Wirtschaft zu gewinnen“.

*Name von der Redaktion geändert

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Christine Kröger


Christine Kröger, geboren am 7. April 1968 in Cloppenburg. Nach dem Abitur an der Liebfrauenschule in Cloppenburg von 1987 bis 1988 zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück. Dann bis 1995 Studium der Publizistik, Politik, Wirtschaftspolitik und Romanistik an der Universität Münster. 1995-1997 Volontariat bei der Nordwest-Zeitung, Oldenburg. 1998-1999 Pressesprecherin der Handwerkskammer für Ostfriesland, Aurich. Seit 1999 Redakteurin für Niedersachsen, Politik und Reportage beim Bremer Weser-Kurier und den Bremer Nachrichten mit den Schwerpunkten Rechtsextremismus und NS-Vergangenheit, Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik, Maritimes. Christine Krögers Arbeiten sind in mehreren Publikationen veröffentlicht worden: 2004 »Typisch Insel. Die sieben Ostfriesischen Inseln und ihre Menschen«, 2005 »Sie marschieren wieder...«; Broschüre zu neonazistischen Umtrieben in Bremen und Niedersachsen, zur rechtsextremen Szene bundesweit und zur NS-Vergangenheit in der Region (in Zusammenarbeit mit Anke Landwehr und Hans-Günther Thiele); 2006 »Rechtzeitig gegen rechts«, Beilage zu aktuellen rechtsextremen Tendenzen in der Gesellschaft.
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Abgeschaltet

erschienen in:
Weser Kurier,
am 14.05.2010

 

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